Martin Conrad BaldAndersWie ich in der Jugend BaldAnders begegnete, er mir die künstlerische Richtung gab. Ihn verlor und durch Traum titelgebend sich wieder zeigte. Jugend Zur gleichen Zeit des Erwachens meines Bewusstseins für die künstlerischen Ausdrucksformen lese ich im Unterricht Der Abenteuerliche Simplicissimus Teusch. An diesem Gelenkpunkt bin ich 16 Jahre alt und seitdem besteht eine Verbundenheit meiner schöpferischen Kreativitätslinien mit der Figur des BaldAnders als Inbild stetiger Wandlung und Veränderung. Naturerlebnisse Vom Ungegenständlichen ausgehend interessiert mich nicht die bloße Wiedergabe des Sichtbaren. Kehre ich bei Naturstudien nach einiger Zeit dem Motiv den Rücken und arbeite mit gespeicherten Sehempfindungen am Blatt weiter, schöpfe ich bei großformatigen Bildern im Atelier aus vergangenen, nun im Körpergedächtnis abgesunkenen und durch das Malen wieder hervorgerufenen Raumerlebnissen.Wirklichkeitsebenen In der hohen Atelierhalle einer neuen Stadt werden innere Erlebnisse Bildanlass. So wie sich meine Bilder Schicht für Schicht aufbauen, beschäftigen mich die Grenzbereiche zwischen Wachsein und Träumen, die Bewusstseinsübergänge vom Schlaf- zum Wachzustand. Die Gestaltwandlungen der Traumwelten zerfließen in den kurzen Erinnerungsmomenten des Wachzustands. Archetypische Formen tauchen auf: Figuren, Tiere, Dinge, Wesen, umgeben vom Raum architektonischer Fragmente. Bildfindungen von schwebendem Übergang und Wandel. Im nächsten Schritt, die Ebene der Traumbilder hinter sich lassend, richtet sich die Imagination zunächst auf Vorgänge im Inneren des Erdreichs mit seinen Keimen, Formtrieben und Licht- Farbeinschlüssen. Aus der anschließenden Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Topos Der verkehrten Welt werden gegenständliche Bezüge in Motivkombinationen verschoben, vertauscht und auf den Kopf gestellt. Die Arbeit wird ausgerichtet auf ein Offenhalten von Bildvorstellungen durch Schichtenüberlagerung, Transparenz der Farbformen. So entwickeln sich assoziative Setzungen von Figur, Tier, Kirche, Kopf, Haus, Andeutungen und Vorstellungen zu Sinnesorgantausch und Gestaltwandlung: Ich bin mir selbst Dach, Fenster und Herd. Verlieren, um sich anders wiederzufinden In einem kleineren Atelier lösen sich die Formen unter den Partikeln ungegenständlich strömender Farbräume. Dem Verlust versuche ich mit kleinen zeichnerischen Notationen nach Traumerlebnissen entgegenzusteuern. In den hermetischen Bildern beginnen wie Risse im auftauenden Eis, wie leichtes Kräuseln auf der Wasseroberfläche, erneut Bewusstseinsmodelle aufzutauchen. Die Pinselbewegungen formen sich zu Schichtenmodellen mit zeichnerisch überlagerten Kreisformen, Kapseln im Vorschein für die nächste Werkentwicklung.Archiv der Zeichnungen Ein neues Atelier auf einem verwilderten Gelände sendet die richtigen Zeichen. NATURLEHRERAUM steht noch an der Tür im ehemaligen Schulpavillon. Der an einen Naturaufenthalt anschließende Besuch eines naturhistorischen Museums wird zum Schlüsselerlebnis. Zeichnerische Notationen aus dem Kanon menschheitsgeschichtlicher Entwicklungslinien und biologischer Bereiche, Netzstrukturen, mythischen Formen als Symbole der Komplexität umkreisen ein Denken in sich austauschenden Kategorien. Verknüpfungen aus den Bereichen von Natur und Kultur bilden Thema und Ausgangspunkt meines zeichnerischen Vokabulars. Ich habe, auf der Ebene der Zeichnung, verstanden als ein Gefäß kultureller Erinnerung, angeregt durch mein Interesse für naturkundliche und archäologische Sammlungen, für Traumvorgänge im Sinne einer mentalen Archäologie und für mittelalterliche Buchmalerei, eigene Archive ethnologischen, biologischen und geografischen Zuschnitts angelegt.Entstehung der Zeichnungen und Nachtbegegnung Die Blätter sind ursprünglich nicht als Illustrationen zu einem Text entstanden. Sie waren zuerst da, im Tagwerk. Erst in der Rückschau, im Nachtwerk meiner Träume während der Arbeitsprozesse, meldeten sich aus meinem Unbewussten Verknüpfungen zur Figur des BaldAnders aus Grimmelshausens Simplicissimus, im 6. Buch der Continuatio. Gezeichnete Formen verwandeln sich im Traum in reale Gegenstände zurück. Traum-Notizen während der Arbeit an Fünfhändige Winde zu BaldAnders 22./23.10. 2011 Sich selbst überlassene hohe Halle, in der Höhe quadratische Fenster zur Straße, mit Pflanzenwuchs: Das dritte Atelier, komme nur einmal im Monat vorbei, um Entwicklungen zu beobachten. Formen, die sich ändern, wandeln, im Sinne einer Metamorphose, Übergänge von Pflanze zu Tier, von Pflanze zu Kulturartefakten. Erkenne die Formen erst auf den zweiten Blick. Lebendigkeit und fleischfressende Pflanzen. Wolle formt sich von selbst, da in ihrer Struktur vorhergegangene Formen gespeichert sind, aus sich selbst heraus zu Pullovern, Stuhl, Leiter. 19./20.12.2011 Ein großer Ausstellungsraum. Voll mit abgestellten Skulpturen und Objekten eines oder mehrerer Künstler. Ich soll daraus eine Ausstellung aufbauen. Ich nehme die Dinge in die Hand, laufe und gruppiere. Bilde Gruppen, hintereinander in unterschiedlichen Formationen stehende Ensembles. Verteile Einzelstücke an den Wänden, suche nach Leeräumen dazwischen, um eine spannende Gesamtausstellung im Raum zu schaffen. Die Objekte sind unterschiedlich groß, von Hockergröße bis Türgröße, an ihr Gewicht kann ich mich nicht erinnern, jedoch an die Farbe auf ihren Oberflächen. Ein Vogel kommt ans Fenster im Wintergarten und spricht mit mir, sowie ich vor die Tür trete. Ich sehe ihn durch das Fenster und sage zu der umstehenden Familie: „Der ist für mich“ und gehe zu ihm ins Freie. Er spricht auf einem Zweig sitzend zu mir. Zeichnete gestern Abend einen Vogel mit Nestbaumaterial im Schnabel. Beim Aufwachen fällt mir ein, ich träumte von meinen Transferzeichnungen auf Aquarell (Fünfhändige Winde Serie, 2011). Ich setze die Zeichnung verdeckt durch das Transferpapier und strukturiere dann das Blatt durch Radieren und Überkleben von weißen Feldern mit Papier. Die gegenständlichen, transparenten, unkörperlichen Zeichnungen verwandeln sich im Traum in Gegenstände, reale Formen zurück. – Die Zeichnungen stammen ja von Formen aus unterschiedlichen Bewusstseinsstufen, aus Museen und eigenen Archiven. – Verstärken, abschwächen, zurücktreten und vortreten lassen, verschieben, wegnehmen und verdichten sind ja die Prozesse während des Zeichnens der Blätter, bis ich eine Lösung für die Spannung des gesamten Blattes gefunden habe. Auszug Manuskript: Das silberne Seil – Werkverlauf, Essays 1971- aktuell Titel Die Titel meiner Arbeiten finden sich erst nachträglich, wenn sie fertig sind, aus Gedanken und Aufzeichnungen während ihrer Entstehung. So schreibe ich Vorschläge auf kleine Zettel, lege sie prüfend darunter, um zu schauen, ob eine Verbindung besteht: Die gleiche schwebende Mehrdeutigkeit im Wortklang der Sprache zu benennen. So auch der Titel dieser Serie: Fünfhände Winde zu BaldAnders. Aus vier Himmelsrichtungen und der fünften, aus den Tiefen der Träume, die zu BaldAnders führen, wehen Winde Formen aus Vergangenheit und Gegenwart herbei. In einer künstlerischen Haltung mit Händen zu Denken werden sie aufgenommen und in der Empfindung, zu sehen, statt wiederzuerkennen zu wechselhaften Konstellationen in frei wandelbaren Motivketten verknüpft.Im Moment der Arbeit das selbst gesetzte Ziel aufgeben Ich arbeite zielgerichtet mit einer unbestimmten Ausgangsidee auf eine Realisierung hin, um in einer entscheidenden Phase spontaner Eingebung folgend dem Bild eine andere Wendung zu geben. Diese Arbeitsmethode der bewussten Verschiebung kann genauso gut durch eine zufällige Anordnung von Formen in meinem Blickfeld, willkürliche Zerstörung oder das unmittelbare Auftauchen eines Impulses aus Assoziationen in den eigenen Tiefenschichten entstehen. So finde ich eine Lösung, die mein bewusstes Vermögen übersteigt. Die mich selbst überrascht, wo ich nicht gedacht hätte, dass mir das einfällt. Das Unbewusste zeigt sich als ein größeres, freieres und offeneres Potenzial, um etwas Unvorhergesehenes entstehen zu lassen. Die Verästelungen des Lebens werden zu inneren Strukturen vernetzt. Sie transformieren sich für den Betrachter in der Wahrnehmung über die Imagination in die Schicht verborgener persönlicher Erinnerungen. Als Selbstvergewisserung und Möglichkeit, sich selbst weiterzuentwickeln. Im Widerhall von Zusammensetzen und Auseinanderfallen bin ich der Hüter meiner selbst als Kind. Martin Conrad, August 2025 PDF-Text
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